Romantik in England: Erste Schritte in empfindsame Welten

Romantik in England: Erste Schritte in empfindsame Welten
Romantik in England: Erste Schritte in empfindsame Welten
 
Die Betonung von Fantasie und Gefühl, die Poetisierung der Wirklichkeit, das Interesse an allem Außergewöhnlichen und »Genialischen«, der Ausgriff ins Unendliche, der Bruch mit klassischen Normen und die Wiederentdeckung der »vaterländischen« Vergangenheit wurden zum gemeinsamen Nenner der internationalen Romantik um 1800. In Literatur, Musik und bildender Kunst nahm die Romantik freilich in den einzelnen Ländern sehr unterschiedliche Ausprägungen an.
 
In England zeigten sich romantische Tendenzen früher als auf dem Kontinent. Philosophen wie Joseph Addison oder Shaftesbury und Dichter wie Alexander Pope hatten schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein auf Anschauung und Einfühlung gerichtetes individuelles Naturempfinden propagiert. Als Edmund Burke 1757 mit seiner Definition des Schönen und Erhabenen die Ästhetik des lustvollen Schauders salonfähig machte, plante der Gartenarchitekt William Chambers in seinen Anlagen extravagante, Schrecken erregende Szenarien, die ihre Entsprechung im englischen Schauerroman fanden - von Horace Walpoles »The castle of Otranto« (1764) über William Beckfords »Vathek« (1786) zu Mary Shelleys »Frankenstein« (1818). Die literarische »schwarze Romantik« des 19. Jahrhunderts war vielfach identisch mit der »Gothic romance«, welche die Nachtseiten des Mittelalters heraufbeschwörte. Als solche hatte sie Vorbilder in der neugotischen Architektur - etwa dem nach Ideen Walpoles erbauten Landhaus Strawberry Hill (1748-77) oder dem Schloss Fonthill Abbey (1796-1807), das James Wyatt für Beckford errichtete. Auch in den Ruinenstaffagen der Landschaftsgärten machte sich romantische Vergangenheitssehnsucht fest. In der Malerei hatte die Schauerromantik, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die visionären Panoramen von John Martin hervorbrachte, Vorläufer in Johann Heinrich Füssli und William Blake, die ihre Bilder einer irrational-unheimlichen Welt öffneten.
 
Zu ihrem Höhepunkt fand die englische Malerei der Romantik jedoch nicht in solchen abgründigen Themen, sondern in stimmungsvollen Landschaften. Im 18. Jahrhundert war es für die jungen Lords und Gentlemen Mode geworden, ihre Erziehung mit einer Reise über den Kontinent nach Italien abzuschließen. Meist begleiteten sie auf dieser »Grand tour« Aquarellmaler, die neben Motiven des klassischen Bildungskanons nun häufig reizvolle Landschaften festhielten. So malte William Pars in den 1760er-Jahren die Schweizer Alpen, die Paradelandschaft des Erhabenen. Der Schriftsteller Lord Byron erhob auch das Rheintal und Venedig zum Inbegriff romantischer Szenerie; Touristenströme folgten seinen Spuren, was in der Lagunenstadt zur baldigen Umwandlung alter Paläste in moderne Hotels führte. Die Reisen zu solchen malerischen Attraktionen, aber auch das neue Interesse an stimmungvollen Regionen in der Heimat zog einen unvergleichlichen Aufschwung der englischen Landschaftsmalerei zwischen etwa 1800 und 1840 nach sich. Unter einschlägigen Künstlern wie John Crome, Richard Parkes Bonington, John Cotman oder Thomas Girtin ragte John Constable heraus, dessen in lockerer Pinselführung fixierte atmosphärische Naturschilderungen auch die Franzosen Delacroix und Géricault begeisterten und später die Meister von Barbizon und noch die Impressionisten beeinflussten.
 
Alle aber überragte William Turner, dessen in Farbe und Licht aufgelösten Bilder John Ruskin, der prägende Kunsttheoretiker der Romantik in England, 1843 in seinem Buch »Modern painters« leidenschaftlich gegen Spötter verteidigte. Turner, Mitglied und Professor der »Royal Academy«, orientierte sich zunächst an der klassischen Landschaftsmalerei von Claude Lorrain. 1802 reiste er erstmals auf den Kontinent, nach Frankreich und in die Schweiz. Nach seinem ersten Besuch Italiens (1819/20) gestaltete er seine Ölbilder, Aquarelle und Zeichnungen immer experimenteller - bis hin zur virtuosen Raffinesse seines Spätwerks. Dabei entwickelte er, gestützt auf Goethes Farbenlehre, eine revolutionäre Wiedergabe des Lichts und eine Farbigkeit, die sich - etwa in den Venedig-Gemälden der 1840er-Jahre - zu impressionistisch und sogar abstrakt wirkenden Strukturen steigerten: In dem berühmten Bild »Regen, Dampf und Geschwindigkeit - Die Große Westeisenbahn« veranschaulichte er das Tempo des neuen Transportmittels in der dunklen Geraden des dahinrasenden Zuges inmitten eines diffusen Fleckengewirrs. Turner sah die grenzenlose Natur als ein unauflösbares Rätsel, das er in einer Reihe mythischer Landschaftsszenarien als kosmisches Schicksal begriff. Aus den Polen von Licht und Dunkel erwuchs ihm die bildnerische Entsprechung von Werden und Vergehen, die in ihrer visionären Wirkung die sonstige Poetisierung der Landschaft in der Romantik weit überstieg.
 
Dr. Norbert Wolf
 
 
Europäische Kunst im 19. Jahrhundert. Vaughan, William: Band 1: 1780—1850. Vom Klassizismus zum Biedermeier. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1990—91.
 Hofmann, Werner: Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830. München 1995.
 Hofmann, Werner: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts. München 31991.

Universal-Lexikon. 2012.

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